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Göttingen (epd). Der Göttinger Soziologe Berthold Vogel forscht zum gesellschaftlichen Zusammenhalt in Betrieben, in Haushalten und im Leben auf kommunaler Ebene. Er fragt, wie sich die Digitalisierung in der Arbeitswelt auf die Sozialbeziehungen auswirkt und wie in einer zunehmend fragmentierten Gesellschaft Solidarität und Gemeinsinn gelebt werden. Die Coronazeit hat seinen Blick für diese Fragen geschärft, wie er im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) erläutert.

 

epd: Herr Vogel, was macht das «Social Distancing» mit uns?

 

Berthold Vogel: Für viele sind die Kontaktbeschränkungen eine große Belastung. Natürlich leiden unsere Sozialbeziehungen. Das sagen uns viele Menschen: vom Ortsbürgermeister über die Theaterleiterin bis zu den Betriebsräten der IG-Metall. Corona beschleunigt die Trennung. Man findet nicht mehr richtig zueinander, gemeinsame Veranstaltungen finden faktisch kaum statt. Insofern liegt die Frage nach einer Gefährdung der Kultur des Zusammenlebens nahe.

 

epd: Viele meinen, man könne genauso gut per Videokonferenz oder Email in Kontakt bleiben.

 

Berthold Vogel: Es ist gut, dass es diese Möglichkeiten gibt. Diese Art des Austausches ist aber nicht vergleichbar mit der Kommunikation, die entsteht, wenn man gemeinsam um einen Tisch sitzt. Das erlebe ich auch in meinem Institut: Zu einer guten Besprechung gehört auch das informelle Gespräch am Rande, zum Beispiel die schlichte Frage «Wie geht es dir?». Auch eine gewisse Albernheit und Humor sind manchmal nötig, um den Kopf zu entspannen, die Fantasie anzuregen. Nur so können dann auch wieder ernsthafte Fragen diskutiert werden. All das ist in einer Videokonferenz kaum möglich. Hier arbeitet man eher Tagesordnungen ab und ist froh, wenn die Besprechung vorbei ist.

 

epd: Digitale Formate können körperliche Präsenz also nicht ersetzen?

 

Da bin ich sehr skeptisch. Auch der beiläufige und scheinbar unwichtige Plausch in der Kaffeeküche oder im Treppenhaus ist nicht zu unterschätzen. Überlegen Sie mal, wie viele gute Gedanken durch solche unscheinbaren Begegnungen schon entstanden sind. Auch für die Beziehungspflege ist dieses alltägliche Miteinander ganz wichtig.

 

epd: Sie weisen immer wieder darauf hin, wie wichtig Institutionen und öffentliche Güter sind, und dass wir soziale Orte wie Gewerkschaften, Vereine und Kirchengemeinden brauchen. Treibt die Pandemie die Vereinzelung und Fragmentierung des Lebens weiter voran?

 

Berthold Vogel: Die Gefahr besteht. Man kann es aber auch positiv wenden: Die Pandemie zeigt uns, wie groß unsere Sehnsucht nach persönlicher Begegnung ist. Wir entdecken plötzlich, wie wichtig leibliche Präsenz für ein lebendiges und verbindliches Miteinander ist. Daher müssen wir uns mit Fantasie und Engagement unsere sozialen Orte am Leben erhalten und pflegen. Wir müssen pragmatische Lösungen finden, damit das gesellschaftliche Leben vor Ort, in der Stadt, auf dem Land, in der Nachbarschaft und in Vereinen wieder stattfinden kann.

 

epd: Haben Sie keine Angst vor weiteren Infektionswellen?

 

Berthold Vogel: Wer pragmatische Lösungen sucht, darf natürlich den Infektionsschutz nicht vergessen. Aber wir müssen es nach den Monaten der Beschränkungen und Schließungen wagen, die Güter abzuwägen. Wie kriegen wir den Infektionsschutz und das Soziale zusammen? Immerhin wissen wir inzwischen, dass nicht jeder Infektionsfall gleich zum totalen Kontrollverlust führt. Deswegen sollten wir auf eine Art pandemiesensiblen Normalbetrieb an unseren sozialen Orten hinarbeiten. Ein schwieriger Prozess, aber wir müssen ihn angehen. Ich denke da zuerst an Schulen und Kindergärten, aber auch an Kirchengemeinden und Vereine. Wir dürfen nicht zulassen, dass das gesellschaftliche Leben an diesen Orten irreparablen Schaden leidet. Nur so verhindern wir, dass das Virus zum unerbittlichen Trennungsbeschleuniger wird.

 

epd: Sie meinen, dass Corona die soziale Ungleichheit verstärkt und den sozialen Zusammenhalt schwächt?

 

Berthold Vogel: Ja, dem müssen wir uns stellen. Das Virus verändert unser alltägliches Miteinander nicht nur über das «Social Distancing». Auch die wirtschaftliche Rezession und die daraus resultierenden Konflikte um die Verteilung des Wohlstands stellen den Zusammenhalt auf die Probe. Aber ich will auch nicht den Teufel an die Wand malen. Alles in allem können wir uns in Deutschland glücklich schätzen. Von Verhältnissen wie in Brasilien oder in den USA sind wir weit entfernt. Unsere Demokratie funktioniert. Die allermeisten Menschen hierzulande akzeptieren die Kontakteinschränkungen und die vorübergehende Einschränkung vieler Freiheitsrechte. Sie vertrauen den Regierenden.

 

epd: Werden wir uns in zehn Jahren wieder wie selbstverständlich die Hand geben können? Oder gehen wir künftig distanzierter miteinander um?

 

Berthold Vogel: Letzteres hoffe ich nicht. Erstgenanntes schon. Aber ehrlich gesagt: Für eine definitive Antwort ist es noch zu früh. Wir reden hier ja über einen relativ kurzen Zeitraum. Der krempelt unsere Kultur des Miteinanders nicht grundlegend um. Noch nicht.