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80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges sprechen Nachkommen von Opfern und Tätern über Trauma, Schuld, Scham und Aussöhnung. Ausgangspunkt ist ein Wehrmachtsverbrechen in der Bretagne. Ein Mann aus Bremen hat den ersten Schritt getan. In den Erzählungen des ehemaligen Luftwaffen-Offiziers klang es nur wie ein gefährliches Kriegsabenteuer: Als Pilot im Zweiten Weltkrieg steuert Oberleutnant Kurt Sodemann, Vater des Bremer Journalisten Christoph Sodemann, ein deutsches Kampfflugzeug über Brest und bombardiert Schiffe der französischen Kriegsmarine - bis seine JU88 von französischer Flak angeschossen wird. Eine Situation, aus der ein Wehrmachtsverbrechen entsteht, das bis heute nachwirkt. Und das 85 Jahre später die Nachkommen von Opfern und Tätern zusammenbringt.

Der linke Propeller des Kampfflugzeugs ist getroffen. 20 Kilometer von Brest entfernt schafft Kurt Sodemann eine Notlandung auf einem Acker beim Dorf Plouguerneau. Bauern kommen und umstellen das Gebüsch, aus dem die vierköpfige Crew mit weißen Taschentüchern kriecht. Sie werden umringt, beschimpft, geschlagen, schließlich festgenommen. Das sei nicht schön gewesen, erzählt Kurt Sodemann später seinem Sohn am Esstisch. Mehr nicht. «Dabei wollte ich als zehnjähriger Junge doch viel mehr wissen», erinnert sich Christoph Sodemann.

Tatsächlich geht es nach der Notlandung mit großer Dramatik weiter. Denn schon am nächsten Tag, am 19. Juni 1940, besetzt eine Panzerdivision der Wehrmacht die Bretagne. Oberleutnant Sodemann und seine Crew werden befreit.

Vor drei Jahren stieß sein Sohn im Internet auf ein altes Schwarz-Weiß-Foto des Flugzeugwracks mit dem großen Hakenkreuz - und auf die ganze Geschichte. Dokumentiert hat sie der bretonische Flugzeugmechaniker und Lokalhistoriker Gildas Saouzanet. Er fand heraus, dass direkt nach der Besetzung Wehrmachtssoldaten in Plouguerneau nach den Einwohnern suchen, die die deutsche Crew attackiert hatten. Zwei Bauern werden verhaftet: Jean-Marie Kérandel und Jean Balcon. Dabei waren sie diejenigen, die nach der Notlandung die wütenden Bauern beruhigt hatten.

Die Deutschen wissen das, aber sie wollen die Namen der Beteiligten. Und ein Exempel statuieren. Doch Kérandel und Balcon schweigen. Am 23. Juni erlässt ein Offizier der deutschen Panzerdivision, im Hauptberuf Amtsrichter, ein Feldurteil: Kérandel wird zum Tode verurteilt und am 28. Juni 1940 in Brest erschossen. Er war 57 Jahre alt und Vater von acht Kindern.

Die letzten von einem Priester dokumentierten Worte des tiefgläubigen Mannes waren: «Ich bitte Gott um Vergebung, ich vergebe allen. Ich sterbe für Frankreich, für die Religion, und für die Freundschaft zwischen allen Völkern.» Balcon muss zu zwölf Jahren Haft nach Deutschland. Er kehrt nach Kriegsende 1945 als gebrochener Mann zurück.

Ein Wehrmachtsverbrechen, sagt Christoph Sodemann: «Verdrängt und verschwiegen». Im März dieses Jahres tut er einen ersten Schritt, reist nach Plouguerneau, begegnet Nachfahren von Jean-Marie Kérandel.

Im Sommer dann der Gegenbesuch: Zwei Enkelinnen des Getöteten, Yvonne und Françoise Kérandel, sind zu einem Treffen in die Bremer Remberti-Gemeinde gekommen. Begleitet werden sie von dem Psychoanalytiker Peter Pogany-Wnendt.

Die emotionalen Spuren des verbrecherischen Vernichtungskrieges der Nationalsozialisten seien in den Nachkommen von Opfern und Tätern bis heute zu spüren, sagt der Vorsitzende des Arbeitskreises zu den intergenerationellen Folgen des Holocaust. «Um weiterleben zu können, mussten die Opfer das Erlebte im Innenleben abkapseln. Sie vergruben es in den Tiefen ihrer Seelen», sagt Pogany-Wnendt. Viele Verfolgte hätten deshalb nicht oder nur wenig über die traumatisierenden Erfahrungen gesprochen. «Und auch die Täter schwiegen.»

Jetzt, bei dem Treffen in Bremen, ist es anders. Im Laufe eines öffentlichen Diskussionsabends betont Françoise Kérandel, sie und Yvonne seien gekommen, um den letzten Worten von Jean-Marie Kérandel Gestalt zu geben. Und Yvonne ergänzt: «Dieses Treffen beweist, dass Freundschaft zwischen unseren Völkern möglich ist.»

Christoph Sodemann, Jahrgang 1955 und jüngstes Kind unter vier Geschwistern, erinnert sich noch gut an seine Reise im März in die Bretagne: «Ich wollte der Familie Kérandel sagen, wie leid mir dieses Unrecht tut und dass ich ihren Schmerz verstehen kann. Wirklich begriffen habe ich erst in Plouguerneau, wie wichtig das war für die Großfamilie, die über Generationen unter diesem ungesühnten Mord gelitten hat.» Sein Vater Kurt Sodemann sei ideologisch deutsch-national eingestellt gewesen, SS-Anwärter. Er habe nie bereut und niemanden um Vergebung gebeten.

Der Besuch sei «ein wahrhafter Akt großen Mutes» gewesen, sagt Yvonne Kérandel. «Das hat ermöglicht, das Schicksal des Großvaters zu thematisieren, um ihn nicht zu vergessen.» Über die Geschehnisse von damals sei in den Familien lange geschwiegen und später nur zögerlich und wenig erzählt worden. Durch die Begegnung sei die Familiengeschichte der Kérandels neu geschrieben worden.

Das Sprechen sei immens wichtig, bekräftigt der Psychoanalytiker Peter Pogany-Wnendt. Dadurch sei es möglich, gemeinsam zu trauern und sich in Freundschaft zu begegnen. Das empfindet das Publikum in der Remberti-Gemeinde genauso. Am Ende ruft eine Zuhörerin dem Podium zu: «Vielen Dank, dass ihr da seid.» Und aus einer anderen Ecke kommt: «Merci.»