Einsamkeit, Depression, Ängste, Stress, Suizidgedanken: 1,2 Millionen Gespräche haben Telefonseelsorger 2024 geführt, ähnlich viele wie im Vorjahr. 7.700 Ehrenamtliche haben für die Anrufer ein offenes Ohr - von Mensch zu Mensch und rund um die Uhr.
Hannover/Berlin (epd). Nicht alles ist immer dramatisch - auch bei der Telefonseelsorge nicht. Manche Anrufe sind sogar amüsant, zumindest rückblickend betrachtet. «Vor etlichen Jahren gab es mal einen Anrufer, der sich mir erst einmal selbst beschrieb», sagt Werner Braun (Name geändert). Zwei Meter sei er groß, Ex-Knacki, Mitglied einer Motorrad-Gang - genauere Angaben will Braun aus Datenschutzgründen nicht machen. «Es war ihm wohl wichtig, dass ich weiß, was für ein Kerl er ist.»
Als Braun den Anrufer fragte, was vorgefallen sei, habe dieser kleinlaut erzählt, dass er einem vermeintlichen Rivalen gegenüber ausgerastet sei, und seine Freundin ihn deswegen verlassen habe. «Er konnte damit nicht umgehen, wusste nicht, was er tun sollte.»Seinen Vorschlag «Fahren Sie zu Ihrer Freundin, bitten Sie um Entschuldigung» habe der Anrufer dankbar angenommen. «Er wollte gleich los und legte auf.»
Nicht immer sind die Probleme der Menschen leicht zu lösen, doch Leichtigkeit hilft. Das weiß Braun aus seiner rund zehnjährigen ehrenamtlichen Tätigkeit als Telefonseelsorger. «Humor spielt eine wichtige Rolle», sagt der Mittsechziger. «Er ebnet den Zugang.»
Seit nahezu 70 Jahren gibt es in Deutschland die Telefonseelsorge, getragen von der evangelischen und der katholischen Kirche. Die Seelsorger sind rund um die Uhr erreichbar, die Beratung ist konfessionsunabhängig, kostenlos und anonym. Sie hinterlässt nicht einmal eine Datenspur im Einzelverbindungsnachweis der Telefonrechnung.
Insgesamt gibt es rund 100 Standorte in Deutschland. Einer davon ist die Telefonseelsorge Elbe-Weser, sie wird von Daniel Tietjen geleitet. Der Diakon ist zudem Beauftragter für die Telefonseelsorge in der evangelischen Landeskirche Hannovers. Tietjen berichtet von Veränderungen in der Beratung, aber auch von vielen Konstanten.
Verändert hätten sich etwa die Kommunikationswege. Zwar sei der Begriff «Telefonseelsorge» fest etabliert, doch es werde immer häufiger auch gemailt und gechattet. Besonders die 20- bis 30-Jährigen nutzten die Chat-Funktion, aber zunehmend auch Menschen um die 40 Jahre. «Manche Dinge, wie Missbrauch etwa, kommen schwer über die Lippen», sagt Tietjen. «Da fällt vielen das Schreiben leichter.»
Auch Künstliche Intelligenz macht vor der Telefonseelsorge nicht Halt. Immer häufiger kommt es Tietjen zufolge vor, dass Menschen in der Beratung sagen, sie hätten ihr Problem bereits mit ChatGPT erörtert.
Thematisch habe sich weniger verändert, als viele denken würden, sagt der Religionspädagoge. Corona, Ukrainekrieg, Klimakrise - all das bewege und belaste die Menschen sehr. Aber in den Gesprächen stünden nach wie vor persönliche Probleme im Vordergrund: Krisen, Trauer, Trennung, Liebeskummer, Einsamkeit, Selbsttötungsgedanken. «Fast jeder dritte Chat dreht sich um das Thema Suizid.»
Um diesen Herausforderungen gewachsen zu sein, werden Telefonseelsorger gründlich geschult. Ein Jahr dauert die rund 150 Stunden umfassende Ausbildung. Regelmäßig gehen die Berater in die Supervision. Voraussetzung für die Tätigkeit als Telefonseelsorger sei nicht nur das Interesse an anderen Menschen, sondern auch an sich selbst, sagt Tietjen. «Es ist wichtig, sich selbst zu reflektieren.»
Das bestätigt auch Werner Braun. «Ich kann nur dann ein guter Berater und Seelsorger sein, wenn ich mit mir selbst im Reinen bin», sagt er. Seine Ausbildung mit etwa zehn anderen angehenden Seelsorgern habe er genossen. «Ich habe noch nie so schnell andere Menschen kennengelernt und ihnen vertraut», erzählt er. «Das lag daran, dass wir uns geöffnet und von unseren Problemen erzählt haben - wohl wissend, dass diese Gespräche unseren Kreis nicht verlassen.»
Braun übernimmt wie jeder Telefonseelsorger rund 20 Tagschichten und fünf Nachtschichten im Jahr. Die Nachtschichten seien etwas Besonderes, sagt er. «Die Welt da draußen steht nachts still, dadurch entsteht eine andere Nähe.»
Ob Tag oder Nacht, ob ein Vater sich grämt, weil sein Sohn den Kontakt abgebrochen hat, ein Mann nicht vom Alkohol loskommt, eine Frau über Schlafprobleme klagt und eine andere über Einsamkeit: Brauns oberste Regel lautet: Zuhören. «Das ist das Wichtigste», sagt er. «Wir geben keinen Rat, wir sind keine Therapeuten.»
Stattdessen verweisen die Telefonseelsorger auf Hilfsangebote, etwa von der Diakonie, «Pro Familia», der Suchtberatung oder Selbsthilfegruppen. Und sie halten Stille aus. Schweigen. Weinen. «Ich bleibe dran», sagt Braun.
Doch Auflegen ist ebenfalls kein Tabu. Menschen, die kein Ende finden oder jeden Tag mehrmals anrufen, müsse man freundlich Grenzen setzen, sagt Braun. Auch das lernen die Seelsorger in ihren Aus- und Fortbildungen. «Da geht es um Selbstschutz, aber auch darum, die Leitung für andere freizumachen.»
Insgesamt, sagt Braun, sei die Telefonseelsorge, ein schönes Ehrenamt. Ganz besonders gelte das natürlich, wenn Telefonate zufriedenstellend gelaufen seien. «Es ist ein gutes Gefühl, Verantwortung zu übernehmen.»