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Heinrich Derksen, Das Gottesdienstverständnis der Russlanddeutschen Freikirchen, EVA, Leipzig 2016.
 

Heinrich Derksen, selbst Mitbegründer und Leiter des Forums evangelischer Freikirchen (FeF), ist ein Insider der Materie. Das Buch seiner Dissertation, die er an der Freien Universität in Amsterdam verteidigt hat, besticht daher durch Detailkenntnisse über Geschichte, Daten und Einschätzungen.

 

Soziologisch, theologisch und methodisch hält er sich an die gängige Literatur, die er zwar seltener systematisch auslotet, mit der er jedoch eine gelungene und detailreiche Übersicht über das gottesdienstliche Leben von mennonitischen und baptistischen Russlanddeutschen für die Leserschaft schafft. Auch wenn gelegentlich Aussagen Dritter, etwa über die Abhängigkeit freikirchlicher Verhaltensweisen von russisch-orthodoxer Frömmigkeit, nicht gern gesehen zu sein scheinen, sind sie erwähnt und diskutiert. Auch bleibt die Frage nach der Anzahl russlanddeutscher Freikirchler umstritten und wird eher hoch angesetzt.

 

Besonders spannend ist gleichwohl die Grundthese des Buches, dass die „Binnenintegration“ als primär positiv zu bewertende Form sozialer Teilhabe eher separatistischen Migrationsverhaltens gerade bei russlanddeutschen Freikirchlern aufgefasst werden sollte. Sie führe zur Steigerung des Selbstbewusstseins, zur Förderung der Selbsthilfe und zur eigenen Interessenvertretung, und deren Gemeinden sollten als psychologische Rückzugsräume gelten und zur Stabilisierung der Homogenität der (ethnoreligiösen) Migrationsgruppenidentität genutzt werden, was man dann grundsätzlich als Diversitätsbeitrag zur multikulturellen Gesellschaft einordnen könne. Allerdings mangelt es dem Buch an eigenständiger Klarheit, wie mit negativen Folgen etwa der sozialen Abschottung und Verweigerung theologischer und moralischer Diskurse mit der Mehrheitsgesellschaft eigentlich dann umzugehen seien, und wie damit, dass man gewollt Spannungen aufbaue, um sich heilswirkend elitär abzugrenzen.

 

Auch wenn sich Derksen den theologischen und soziologischen Fragestellungen hinsichtlich der Einordnung des Gottesdienstverständnisses zwischen Inklusion, Assimilation und Segregation im Kontext einer deutschen Migrationsgesellschaft offenherzig stellt, vermag er keine eigenen Diskurs- oder Lösungsansätze anzubieten, was man in einem so üppigen Dissertationswerk sicherlich hätte erwarten können. Daran änderte sich auch nichts, wenn man die Klärungsprozesse selber in den Ortsgemeinden angesiedelt sein lässt. Es ginge eher darum, was freikirchliche Theologen diesen Ortsgemeinden vordenken und mit auf den Weg geben und was nicht! Denn was bedeutet es, wenn es heißt, dass man ein Bewusstsein für eigene kulturelle Überformungen im Mennoniten- und Baptistentum schaffen müsse, der Gegenpart des gereinigten und bibeltreuen Evangelium-Verständnisses sich jedoch immer noch moderner Exegese, moralischer Neujustierung oder Frauenordination verwehre, ohne sich mit dem Gedanken anfreunden zu können, dass just diese neuen Errungenschaften vorwiegend landeskirchlicher Theologie dem Werk des Heiligen Geistes selbst zu verdanken sein könnten und es sich somit um keine kulturellen Perversionen des Evangeliums handele? Hier bleibt auch Derksen selber dem konventionellen freikirchlichen Denken wenig innovativ verhaftet. Lesenswert ist dieses Buch aber dennoch, weil es offen und konstruktiv zur Diskussion anregt.

 

Von Pfarrer Dr. Oliver Dürr