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Oldenburg (epd). Bei Nikolas ist Homeschooling angesagt: Noch in T-Shirt und Pyjamahose sitzt der zehnjährige Oldenburger vor dem Bildschirm und beschäftigt sich mit Englischaufgaben. Sein sechsjähriger Bruder Frederik, auch noch im Schlafanzug, saust derweil zwischen Küchentisch und Wohnzimmer-Couch hin und her. «Ich will auch Medien», ruft er laut. Charlotte Sommer (Name geändert), die Mutter der beiden, seufzt: «Wegen Corona sind die beiden oft zu Hause, und dann ist immer Highlife.»

 

 

 

Nikolas, vom Lärm genervt, hat dann bei der Übung zur englischen Verneinung eine Idee. «I don't like my brother», tippt er in den Computer. Er meine das nicht ernst, sagt er später lachend: «Es ist eigentlich schön, immer einen Spielkameraden zu haben.»

 

 

 

Die meisten der rund 13,7 Millionen Kinder und Jugendlichen in Deutschland, rund 82 Prozent, wachsen wie Nikolas und Frederik mit Geschwistern auf. «Mit dem Bruder oder der Schwester lernt man zu reden, zu streiten, aber auch sich zu versöhnen», sagt der Berliner Psychotherapeut und Autor Wolfgang Krüger.

 

 

 

Die besondere Nähe zu ihren bei einem Unfall verstorbenen Geschwistern wollte auch die US-Amerikanerin Claudia E. Evart ausdrücken: Sie ist die Initiatorin des Welttages der Geschwister, der seit 1998 am 10. April begangen wird. Ein Tag, der durch den anhaltenden Lockdown in Deutschland noch mehr Bedeutung erhält: Weil Kontakte zu Freunden vermieden werden sollen, Freizeitaktivitäten wegfallen, verbringen Geschwister zu Hause oft noch mehr Zeit miteinander.

 

 

 

«Wenn sich die Kinder verstehen, ist es natürlich ein Vorteil, dass Spielkameraden im Haus sind», sagt Susann Sitzler, Autorin des Buches «Geschwister - Die längste Beziehung des Lebens». Allerdings kann es durch das ständige erzwungene Zusammensein auch mehr Streit geben. Was bei Streitereien manchmal mitspielt: Geschwister hätten leicht eine Eifersuchtsproblematik, denn sie müssten sich die Zuwendung teilen, sagt Wolfgang Krüger.

 

 

 

Laut einer US-amerikanischen Studie geraten Drei- bis Siebenjährige im Schnitt pro Stunde rund 3,5 Mal einander. Die alleinerziehende Mutter Charlotte Sommer, an der Uni tätig und selber im Homeoffice, kann das bestätigen - auch, wenn Nikolas und Frederik mittlerweile älter sind. «Bei den beiden liegen Freude und Streit oft zeitlich sehr nah beieinander.»

 

 

 

Der Schriftsteller Kurt Tucholsky drückte das einmal so aus: «Indianer sind entweder auf dem Kriegspfad oder rauchen Friedenspfeife. Geschwister können beides.» Der Münchner Familienforscher Hartmut Kasten erklärt: «Es ist typisch für die Beziehung zwischen Geschwistern, dass negative und positive Gefühle gleichzeitig stark vorhanden sind.» Anders als Freunde suche man sich Geschwister nicht aus, die Verbindung sei «schicksalhaft».

 

 

 

Dabei wird das Verhältnis von Alter und Geschlecht beeinflusst: Nähe und damit auch das Konfliktpotenzial seien am größten bei geringem Altersunterschied und gleichem Geschlecht, erläutert der Pädagoge. Jungen und Mädchen stritten meist seltener, weil sie oft unterschiedliche Interessen und Vorbilder hätten. Bei gleichgeschlechtlichen Geschwistern kann das ältere Kind ein Vorbild sein - auch, weil es im Hinblick auf Freiheiten gegenüber den Eltern erste Wege ebnet.

 

 

 

Mit dem Lebensalter ändert sich die Beziehung zwischen Geschwistern. Kinder sind sich nah, weil sie viel Zeit miteinander verbringen, im Teenager-Alter wird das Verhältnis distanzierter - irgendwann ziehen die Älteren aus. Wenn eigene Berufswege gegangen und Familien gegründet werden, ist die Distanz oft am größten.

 

 

 

«Für viele Menschen ist das Verhältnis zu ihren Geschwistern dennoch die einzige Beziehung im Leben, die nie infrage gestellt wird», sagt Susann Sitzler. Und der Therapeut Wolfgang Krüger erfährt von seinen Patienten immer wieder, wie unterstützend Geschwister sein können: «Es ist eine sehr verlässliche, selbstverständliche Beziehung, in der man sich in allen Lebenslagen hilft.»

 

 

 

Das gilt oft, aber nicht immer: Einen heftigen Bruderkonflikt erzählt schon die Bibel mit der Geschichte von Kain und Abel. Und heute geraten Geschwister mitunter aneinander, wenn es um die Pflege betagter Eltern und das anschließende Erben geht. «Mit dem Tod von Vater und Mutter geht eine Ordnungskraft verloren, und es können alte Konflikte aufbrechen», sagt Sitzler. Ein Streit kann dann dazu führen, dass Kontakte ganz abgebrochen werden. Aber selbst das sei nicht immer endgültig. «Geschwister haben eine Art Sicherheitspuffer und finden später häufig wieder zueinander», meint Sitzler.

 

 

 

Solche Gedanken machen sich Nikolas und Frederik natürlich nicht. Und auch wenn der Bruder manchmal «nervt», genießt es Nikolas sehr, gemeinsam mit «Freddie» unter der Decke auf der Couch die «Sendung mit der Maus» zu schauen, wie er erzählt. Einzelkind möchte der Zehnjährige jedenfalls keinesfalls sein: «Dann hat man keinen Begleiter für das Leben.»