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Hannover/Berlin (epd). Die hannoversche Theologin Petra Bahr hat beklagt, dass so viele mit dem Corona-Virus infizierte Menschen anonym sterben. «Morgens erst mal die Todeszahlen wie Börsendaten - das ist für viele Routine geworden», sagte Bahr, die Regionalbischöfin für den Sprengel Hannover und seit 2020 auch Mitglied des Deutschen Ethikrates ist, der in Berlin erscheinenden «tageszeitung» (taz, Wochenende). «Zahlen sind anonym und berühren von Ferne, ohne dass es je existenziell würde, weil die Lebensgeschichten hinter den Diagrammen verschwinden.»

 

Mehr als tausend Tote am Tag seien eine erschreckende Zahl, die zur Gewöhnung zu werden drohe, sagte Bahr. «Es sterben nur die anderen. Bis es jemanden im Bekanntenkreis trifft. Alle wissen, Corona ist eine kollektive Katastrophe, aber die Tode werden immer noch wie individuelle Schicksalsschläge behandelt.»

 

Mit Blick auf die Anregung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, mit Kerzen an den Fenstern der Corona-Toten zu gedenken, sagte Bahr, ein solcher zivilreligiöser Akt sei ein wichtiges Zeichen. Vor hundert Jahren, nach der letzten Pandemie, seien die Toten oft einfach aus dem Dorf- oder Familiengedächtnis verschwunden: «Das droht nun auch.»

 

«Gedenkorte für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs gab es überall, auch in den Kirchen», fügte Bahr hinzu. «Tafeln oder Erinnerungsorte für die Toten der Spanischen Grippe gibt es kaum.» Eine Pandemie sei zwar kein nationales Unglück wie ein Terroranschlag oder ein entgleister ICE. «Trotzdem wäre so eine öffentliche Geste gut, nicht nur gegen das Vergessen der Toten, sondern auch als Mahnung an die Davongekommenen.»

 

Bahr sagte, zu einem solchen Gedenktag gehörten auch diejenigen, «die bis zur Erschöpfung dafür gesorgt haben, dass es nicht noch schlimmer wird». Ebenso wichtig fände sie es, wenn in den Kommunen die Toten und ihre Geschichte sichtbarer würden.

 

«Dass Menschen allein sterben müssen in einer Gesellschaft, die Menschenwürde als zentrale Horizontbestimmung ihres Selbstverständnisses hat, finde ich unerträglich», betonte Bahr. Jetzt müssten viele Menschen aushalten, dass sie ihre Liebsten nicht mehr sehen oder begleiten könnten. Zur Trauer kämen oft schwere Schuldgefühle.

 

Diese «Schuld» sei die Folge systemischen Versagens - aus Unwissenheit, vielleicht auch aus Trägheit. Sie werde dennoch Folgen haben, wie die Scham, die entstehe, wenn Menschen andere ansteckten. «Schuld und Scham wandern ins kollektive Unterbewusste und kommen unter Umständen an Stellen wieder hervor, wo sie niemand erwartet», sagte Bahr. «Als Aggressivität oder als Verzweiflung. Jetzt hat man vielerorts erkannt, dass eine Gesellschaft unmenschlich wird, wenn sie staatlich verordnet, dass Menschen allein sterben müssen.»