Der Volkstrauertag blickt auf eine über 100-jährige Geschichte zurück. Noch vor wenigen Jahren wäre er bloß ein Gedenktag gewesen, der an lange Vergangenes erinnert. Doch 2022 ist Krieg nach Europa zurückgekehrt - und der Tag wichtiger denn je.
Hannover/Kassel (epd). Der erste Volkstrauertag in Deutschland wurde noch im Frühjahr gefeiert, auf den 5. März 1922 war er datiert. Heute wird der Gedenktag im November begangen und damit im tristen Herbst.
In der Reihe der stillen Feier- und Gedenktage Allerheiligen, Allerseelen, Totensonntag soll der Volkstrauertag heute nach dem Willen seiner «Erfinder» möglichst zwischenmenschliche Gedanken wie Fürsorge und Solidarität betonen.
Eingeführt hat den Volkstrauertag der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge zum Gedenken an die Kriegstoten des Ersten Weltkrieges. «Der Tag sollte ein Zeichen der Solidarität sein zwischen denjenigen, die keinen Verlust zu beklagen hatten, mit denen, die um Gefallene trauerten», sagt Volksbund-Sprecherin Diane Tempel-Bornett. Bereits 1921 habe der Volksbund mit Sitz in Kassel einen nationalen Gedenktag ins Auge gefasst - als ideelles Mahnmal und losgelöst von den kirchlichen Gedenktagen im November.
Der Volkstrauertag sollte nicht nur die Trauer und die Vergangenheit, sondern einen Aufbruch in eine bessere Zukunft symbolisieren. «Deshalb plädierte der Volksbund dafür, diesen Gedenktag in den Frühling zu legen», erläutert Tempel-Bornett. Aus der Symbolik des Frühlings nach dem Winter sollte ein nationaler Aufbruch abgeleitet werden.
Die erste offizielle Feierstunde fand 1922 im Deutschen Reichstag in Berlin statt. Der damalige Reichstagspräsident und SPD-Abgeordnete Paul Löbe betonte in seiner Rede den Gedanken an Versöhnung und Verständigung: «Leiden zu lindern, Wunden zu heilen, aber auch Tote zu ehren, Verlorene zu beklagen, bedeutet Abkehr vom Hass, bedeutet Hinkehr zur Liebe.»
Anfangs nahm das Totengedenken ausschließlich die gefallenen Weltkriegssoldaten in den Blick, heute wird aller Opfer und Vertriebenen von Krieg und Gewalt gedacht. «Das ist der vierte Volkstrauertag, an dem wir nicht nur den Toten der vergangenen, sondern auch der gegenwärtigen Kriege gedenken», betont Tempel-Bornett. Durch die Kämpfe in der Ukraine sei Krieg wieder sichtbar in Europa, und der Tag erhalte eine erschreckende
Aktualität: «Es ist durchaus angemessen, auch Dankbarkeit zu verspüren, wenn man niemanden verloren hat oder um eine nahestehende Person bangen muss.»
1934 bestimmte das nationalsozialistische Regime per Gesetz den Volkstrauertag zum Staatsfeiertag und «Heldengedenktag». «Nun flatterten die Fahnen nicht mehr auf Halbmast, sondern wurden voll gehisst», sagt Tempel-Bornett. Propagandaminister Joseph Goebbels habe den Volkstrauertag regelrecht gehasst, «denn er stand nicht im Einklang mit der Ideologie».
Tatsächlich schrieb Goebbels in seinen Tagebüchern im Jahr 1936, dass das Trauern eingeschränkt werden müsse, es sei «so ganz und gar unnationalsozialistisch». Träger des «Heldengedenktages» waren künftig die Wehrmacht und die NSDAP. Die Richtlinien über Inhalt und Ausführung erließ der Reichspropagandaminister. Entsprechend martialisch war die Ausstrahlung der Veranstaltungen.
Nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland erinnerte der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge an den Volkstrauertag. 1950 wurde er erstmals im Plenarsaal des Bundestages begangen. Der Termin wurde nach einer Übereinkunft zwischen der Bundesregierung, den Ländern und den großen Glaubensgemeinschaften auf den vorletzten Sonntag im Kirchenjahr (evangelisch) beziehungsweise den 33. Sonntag im Jahreskreis (katholisch) verlegt.
«Es gab zwischenzeitlich sogar Stimmen innerhalb des Volksbundes, die den Tag wieder in den Frühling verlegen wollten», sagt Sprecherin Tempel-Bornett. «Davon haben wir aber Abstand genommen - auch von Initiativen, den Tag umzubenennen, beispielsweise in Friedenstag.» Die dunkle Jahreszeit und die mit ihr einhergehende Einkehr der Menschen seien ein passendes Umfeld: «Im November ist der Volkstrauertag gut aufgehoben.»
Gedenken an Verstorbene gehört für jüngere Menschen nicht unbedingt zum Alltag. Doch auch sie finden nach den Erfahrungen der Sprecherin schnell einen Zugang zu der Thematik, wenn sie sich näher damit auseinandersetzen. Gerade bei Kriegstoten könne der Besuch eines Gräberfeldes ein regelrechtes Aha-Erlebnis für sie sein, sagt Tempel-Bornett. «Das Stichwort lautet Parallelität.»
Wenn die Jugendlichen oder jungen Erwachsenen Gräber entdeckten, in denen Menschen liegen, die gleich alt oder kaum älter als sie selbst geworden sind, löse das vielfach etwas in ihnen aus. Sie habe bereits beobachtet, wie junge Menschen bei der Wiederherstellung von Grabstellen regelrecht in Zwiegespräche über existenzielle Fragen mit Gestorbenen getreten seien. «Wenn ich merke, dass ich auch selbst hätte in diesem Grab liegen können, wäre ich zu einer anderen Zeit geboren worden, rührt das ganz anders an mir.»