Hannover (epd). Die evangelischen Kirchen in Niedersachsen haben den Überfall Hitlers auf Polen am 1. September 1939 mehrheitlich unterstützt. Der hannoversche Landesbischof August Marahrens
(1875-1950) schrieb in seinem ersten «Wochenbrief» nach Kriegsbeginn an die Pfarrerschaft, nun müssten alle verfügbaren Kräfte für das Vaterland eingesetzt werden: «Auch der Dienst in den Gemeinden muss ganz darauf abgestellt werden, dass alle zu diesem Dienst gestärkt und zur Fürbitte für Führer, Volk und Vaterland gerufen werden.»
Die Wehrmacht griff am 1. September 1939 ohne vorherige Kriegserklärung Polen an und löste damit vor 70 Jahren den Zweiten Weltkrieg mit Millionen Toten aus. Die Kirche stabilisierte nach Auffassung von Experten Hitlers Kriegspolitik und legitimierte sie geistlich. So steht Bischof Marahrens nach den Worten des hannoverschen Theologen Heinrich Grosse nicht allein. Seine Überzeugung habe die überwältigende Mehrheit der Pfarrer und Gemeindemitglieder geteilt.
Marahrens war von 1925 bis 1947 Landesbischof. Er lehnte die nazi-treuen «Deutschen Christen» ab und stellte sich auf die Seite der Bekennenden Kirche. Im Gegensatz dazu hat er dem Kirchenhistoriker Thomas Kück zufolge bei Kriegsbeginn aber auch die Parole ausgegeben, jetzt müsse man stark und tapfer bleiben: «Er war in seinem Verhalten grundsätzlich widersprüchlich.» Der Bischof verlor seinen Sohn Erich bereits am 3. September 1939 als einen der ersten Kriegstoten.
In der Bremischen Evangelischen Kirche rief der damalige Landesbischof Heinz Weidemann (1895-1976) in «weltgeschichtlich großer Stunde» mit dem Gruß «Heil Hitler» zu regelmäßigen Gebeten im Dom auf. Der kirchliche Archivleiter Wilhelm Niebecker sagte, aus dieser Formulierung spreche die Überzeugung, dass der Überfall auf Polen überfällig gewesen sei, um die Schmach des Ersten Weltkrieges zu tilgen. Allerdings gebe es im landeskirchlichen Archiv wenig Quellenmaterial, um die Situation genauer beurteilen zu können.
Auch die Braunschweiger Kirche befürwortete den Kriegsausbruch ungeteilt. Der damalige Landesbischof Helmuth Johnsen (1891-1947) habe mit seiner Erklärung an die Christen ganz auf der Linie von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels gelegen, sagte die Leiterin des Kirchlichen Archivs in Wolfenbüttel, Birgit Hoffmann. Johnsens Erklärung mit der Überschrift «Aufruf!» beginnt mit den Worten: «Die Entscheidung ist gefallen. Der Feind will den Krieg.» Die Kirche rief zum «selbstlosen Einsatz der Kräfte» und zum Gebet auf: «Mit Gott für Deutschland!» Der Text erschien im Landeskirchlichen Amtsblatt vom 4.
September 1939 und sollte in allen Kirchen verlesen werden.
In Oldenburg leitete der braune Bischof, Johannes Volkers (1878-1944), erst eine Woche nach Kriegsbeginn ein «Wort der Deutschen Evangelischen Kirche» kommentarlos an die Pfarrer weiter.
Es enthielt die Aufforderung, es von der Kanzel zu verlesen: «Unser deutsches Volk ist aufgerufen, für das Land seiner Väter, für seine Freiheit und Ehre zu den Waffen zu greifen.» Als Protest gegen den Krieg dürfe das offizielle Schweigen der Landeskirche aber nicht verstanden werden, sagte Archivarin Karen Jens. Viel wahrscheinlicher sei, dass sich niemand belasten wollte.
Volkers habe die Ansicht vertreten: «Wir predigen Evangelium. Die übrigen Fragen überlassen wir vertrauensvoll der Führung Adolf Hitlers.» Für die Kirchenleitung sei der Krieg nicht überraschend gekommen. Schon Wochen zuvor habe der NS-Reichsminister für kirchliche Angelegenheiten, Hanns Kerrl (1887-1941), die Pfarrer angewiesen, die Kunstschätze aus den Kirchen sicher auszulagern und Luftschutzräume für Gottesdienstbesucher anzulegen.
In der Evangelisch-reformierten Kirche mit Sitz in Leer gibt es keine Aufzeichnungen über den Kriegsbeginn. Die Landeskirchenleitung unter Landessuperintendent Walter Hollweg (1883-1974) habe bis Kriegsende einen strikt neutralen Kurs gegenüber der Reichsregierung eingehalten, sagte Kirchensprecher Ulf Preuß.
Der Kirchenhistoriker Hans-Georg Ulrichs (Karlsruhe) beschreibt Hollweg als Taktiker und Zauderer, der versucht habe, seine Kirche durch die NS-Zeit zu lavieren. Unklar bleibe, warum Hollweg im April
1939 ohne Not die «Godesberger Erklärung» unterzeichnet habe, mit der die sogenannten Kirchenführer das «völkisch-politische Aufbauwerk des Führers» unterstützten. Die leitenden Theologen forderten eine «verantwortungsbewusste Rassenpolitik» und erklärten die NS-Politik und den christlichen Glauben für vereinbar und maßgeblich für die Deutschen.