Oldenburg/Hannover (epd). Die Polizei muss nach Ansicht der Psychologin Bettina Zietlow neue Wege finden, um der wachsenden Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft gegenüber Polizeibeamten zu begegnen. «Polizisten werden immer seltener als Respektsperson akzepiert», sagte die Expertin des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen mit Sitz in Hannover im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) nach einer Fachtagung mit Polizeiseelsorgern in Oldenburg. Problematisch seien nicht Einsätze gegen linke oder rechte Chaoten, sondern scheinbare Bagatellfälle.
«Die Menschen erwarten zurecht, dass sie von einem Polizisten in Uniform höflich und mit Respekt behandelt werden», sagte Zietlow. Das gelte aber offenbar nicht mehr in die andere Richtung. Immer häufiger würden die Beamten aus einer scheinbar harmlosen Situation heraus plötzlich angepöbelt, angespuckt und handgreiflich angegriffen.
Zietlow berichtete von einer mehr als 50-jährigen Frau, die in einer Fußgängerzone unerlaubterweise mit dem Fahrrad unterwegs war. Als ein Polizist sie aufgefordert habe abzusteigen und zu schieben, sei die Situation binnen Sekunden eskaliert. Die Frau habe ihr Rad auf den Polizisten geworfen und ihn angegriffen. Nur mit Not habe der Beamte die Frau niederringen können und dann auf Verstärkung warten müssen.
Polizisten seien meist sozial engagierte Menschen, die ihren Beruf gewählt hätten, um Menschen zu helfen, unterstrich die Expertin. In früheren Jahren sei ein Polizist beispielsweise zu einer Kneipenschägerei gekommen, «und dann war Ruhe». Allein die Präsenz des Beamten habe die Situation entschärft. Heute müssten die Streifenpolizisten über die Sinnhaftigkeit von Halteverbotsschildern und roten Ampeln streiten. Gerade gebildete Akademiker seien dabei nur schwer von ihrer Meinung abzubringen. «Das ist auf die Dauer frustrierend.»
Einen Grund für die wachsende Aggression in der Gesellschaft sieht die Psychologin in der zunehmenden Individualisierung. «Es ist gut und richtig, dass Kinder schon in der Kita lernen, selbstbewusst für die eigenen Interessen einzutreten.» Doch führe diese Entwicklung nicht automatisch auch zu einer sozialen Reife. «Die individuelle Freiheit wird von immer mehr Menschen als Alternative zur allgemeinen Ordnung verstanden.» Dies sei ein gefährlicher «Kulturverlust im zwischenmenschlichen Verhalten». Der Achtung gegenüber einem anderen Menschen spiele für viele keine Rolle mehr, wenn diese Person den eigenen Interessen im Wege stehe.