Die Zahl der Kinder, die am Ende der Kita-Zeit Sprachdefizite haben, steigt. In der Grundschule setzt sich das fort. Viele können in der vierten Klasse nicht ausreichend lesen und schreiben. Expertinnen und Kitas zeigen, wie sie gegensteuern.
Osnabrück/Mainz (epd). Matthis (6), Thea (5) und Malina (6) stehen unschlüssig im Lesezimmer der Kita Sonnenblume in Melle bei Osnabrück, die Blicke auf die Tür geheftet. «Wir warten auf Claudia», erklärt Malina. Die drei Vorschulkinder haben die dreijährige Lea im Schlepptau. Die Jüngste hat sich ein Bilderbuch aus einem der prall gefüllten Regale geangelt, ist aufs Sofa gekrabbelt und blättert robust durch die Seiten. «Oh, ein Auge - da, ein Mund», brabbelt sie vor sich hin.
Als Claudia Preuss den Raum betritt und es sich mit einem Buch auf dem Sofa bequem macht, ruckeln alle vier ganz nah an sie heran. «Ich gehe häufig durch die Räume und frage, wer mich zum Vorlesen ins Lesezimmer begleiten möchte», erklärt die Fachkraft für alltagsintegrierte Sprachbildung.
Geschichten und Bücher sind allgegenwärtig in der evangelischen Kita. Jede Gruppe hat eine Leseecke. Kleine Bücherregale finden sich auf den Fluren. Am Eingang lädt ein Regal dazu ein, einfach ein Buch heraus- und mit nach Hause zu nehmen, ganz ohne Ausleih-Formalitäten. «Für ein paar Tage. Dann wird es wieder zurückgestellt. Das klappt hervorragend», berichtet Preuss.
Ihre Stelle wurde früher vom Bund über das Programm Sprachkitas finanziert. Seit Juli 2023 haben die Länder die Förderung übernommen. «Außerdem sind wir eine von 674 Buchkitas in Deutschland», erklärt Preuss. Das Label vergeben der Deutsche Bibliotheksverband und der Börsenverein des Deutschen Buchhandels.
Als Preuss ihre Arbeit 2017 begann, war der Anteil an Kindern, deren Muttersprache nicht Deutsch war, aufgrund vieler Geflüchteter jahrelang sehr hoch. Heute liegt er nahe Null. Preuss findet das schade. «Die anderen Sprachen waren eine Bereicherung. Wir haben sogar Bücher auf Arabisch, Ukrainisch und in weiteren Sprachen in unserem Bestand.»
Die Umgebung der Kita ist bäuerlich-ländlich geprägt. «Wir sind so ein bisschen Klein-Bullerbü», sagt Preuss lachend. Dennoch spürt auch sie den bundesweiten Trend, wonach eine zunehmende Zahl der rund 3,9 Millionen Kita-Kinder Defizite unter anderem in der Sprachentwicklung hat. Die Corona-Zeit und die digitalen Medien hinterließen ihre Spuren, sagt die Expertin.
Simone Ehmig sieht das größte Problem darin, dass die Sprachentwicklung der Kinder in Deutschland noch immer vor allem vom Bildungsstand der Eltern abhängt. «Eltern mit geringer formaler Bildung lesen ihren Kindern weniger vor, geben ihnen weniger Anreize zu erzählen, greifen ihre natürliche Neugierde seltener auf», sagt die Kommunikationswissenschaftlerin, die an den Universitäten Mainz und Berlin lehrt.
Die Eltern hätten es in der eigenen Kindheit nicht erlebt und trauten sich das Vorlesen oft nicht zu. «Deshalb müssen die Kitas diese Defizite besser auffangen und so den Kreis durchbrechen», fordert die Mitbegründerin des Netzwerks Leseforschung. Ehmig koordiniert bundesweit Projekte zu Veränderungsprozessen in Bildungseinrichtungen. Die Kita Sonnenblume hält sie für ein Vorzeige-Projekt.
Claudia Preuss gibt auch den übrigen Fachkräften Tipps und Materialien, mit denen diese im Alltag die Sprach- und Erzählkompetenzen der Kinder fördern und sie an Bücher heranführen können. «Denn die Erzieherinnen sind viel näher an den Kindern dran als ich.»
Derweil hat Adam in seiner Gruppe aus Holzklötzen eine Brücke gebaut. In weiten Bögen zieht sie sich durch den halben Raum. Erzieherin Heike Holberg ist sichtlich beeindruckt: «Dein Bauwerk erinnert mich an die Brennerautobahn.» Davon hat der Sechsjährige noch nie gehört. Holberg zeigt ihm auf einem Tablet Fotos von der Alpenstraße. Adam wischt begeistert durch die Aufnahmen.
Die Szene spricht Simone Ehmig aus dem Herzen. Sie hält nicht viel von einem Verbot von digitalen Medien für Kleinkinder. «Wir dürfen uns nicht durch eine Pauschalverurteilung aus der Verantwortung stehlen.» Schulen und auch schon Kitas müssten den Kindern und - ganz wichtig - auch deren Eltern vermitteln, dass Handys, Tablets und Co. auch sinnvoll etwa zum Vorlesen, gemeinsamen Musikhören, Erzählen oder Rätseln genutzt werden können.
Die Expertin rät Kitas, sich für die Medienbildung und die Leseförderung mit Vereinen und Bibliotheken zusammenzutun. So macht es auch die Kita St. Johann in Osnabrück. Mit rund 20 Vorschulkindern besucht die stellvertretende Leiterin Annette Kramer an einem Vormittag die Stadtbibliothek. Bilderbuchkino steht auf dem Programm, eines von zahlreichen Angeboten der Bibliothek für Kita- und Grundschulkinder.
Bibliothekarin Kathrin Schmidt beginnt mit ein paar Lockerungsübungen: Hüpfen auf einem Bein, Rennen auf der Stelle, Armkreisen, leichtes Klopfen mit den Fäusten auf den Kopf. Dann lassen sich die Mädchen und Jungen unter viel Gerede und Gelächter und ein bisschen Geschubse mit bunten Kissen ausgestattet auf dem Teppich nieder.
Erwartungsvoll blicken sie auf die Leinwand. Das erste Bild erscheint. «Die schönste Laterne der Welt» heißt die Geschichte. «Die kenne ich», ruft ein Kind. Ein paar weitere stimmen ein. Dann kehrt langsam Ruhe ein. Schmidt schlägt das Buch auf und beginnt zu lesen, spielt nach und nach die dazugehörigen Bilder ab, stellt Fragen, reagiert auf Zurufe.
«Das lieben die Kinder», schwärmt Kramer. Aber vielen falle es schwer, sich zu konzentrieren oder längere Zeit aufmerksam zuzuhören. Die Kita liegt in der Innenstadt, die Kinder stammen aus allen Milieus, der Anteil derjenigen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, ist hoch.
Die Kleinen seien schnell frustriert, der unbeaufsichtigte Medienkonsum bei vielen sei hoch, berichtet die Erzieherin und Heilpädagogin. Die meisten hätten bereits ein eigenes Tablet, einige ein Smartphone, manche spielten Ballerspiele. Eltern erlebt Kramer vielfach als gestresst. In der Kita haben sie ein Schild aufgehängt: «Bitte lassen Sie ihr Smartphone in der Tasche und nehmen Sie sich beim Abholen ein paar Minuten Zeit nur für ihr Kind.»
Kramer ist trotz mancher Schwierigkeiten überzeugt, dass sie Kindern eine gute Grundlage für die Schule und den Eltern wertvolle Tipps für die Erziehung geben können: «Ich habe das Gefühl, dass wir etwas erreichen können, und versuche, das auch meinen jungen Kolleginnen mitzugeben», sagt Kramer. Claudia Preuss sagt: «Wir wollen die Kinder mit einem guten Wortschatz in die Schule entlassen. Sie sollen einen prall gefüllten Rucksack mit Wörtern für jede Gelegenheit haben.»