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Ferdinand Stoll: Kasachstandeutsche: Kasachstandeutsche Migrationsstrategien im Übergang von ethnischer zu transnationaler Migration – aus der Sicht von Kasachstan, Kißlegg: Stoll-Verlag, 2007
 
Es wird den Lesern dieser ausgesprochen gut lesbaren Untersuchung nicht schwer fallen, schnell einen Zugang zum Thema zu finden. Dabei sollte der eher akademisch umständliche Titel des Buches keineswegs abschrecken, denn dieses Buch mit gutem Bildmaterial ist lesenswert. Die Grundthese steht zugegeben auch schon im eben skeptisch beäugten Titel selbst: Für Kasachstan verändert sich die Migrationswahrnehmung in den letzten Jahrzehnten. Und damit korrespondieren verschiedene Migrationsstrategien der Kasachstandeutschen und deren zuteilen ethnisch nicht deutschen Angehörigen.
 
Auf über 250 Seiten erschließt uns der Autor Ferdinand Stoll, selber als Journalist in Kasachstan tätig gewesen, die neueren Wege einer Migrationsforschung, die sich zunehmend darauf eingelassen hat, neben Ethnizität auch weitere Gründe für Migrationsgruppen ideologiefrei zuzulassen. So zeigt sich etwa, dass zwar Abstammung für die Sicherung der Ausreise nach Deutschland tief verankert ist in der Selbstwahrnehmung der heute fast durchgängig ethnisch gemischten kasachstandeutschen Familien, dass aber demgegenüber die realen Beweggründe zur Ausreise nicht mehr allein aus der deutschen Kultur und Tradition verständlich gemacht werden können. Stoll zeigt auf, dass auch die geschichtlichen Wurzeln der Deportationsgenerationen zunehmend stereotypisch verwandt werden, da sie für die Ausreise nach Deutschland weiterhin von der Bundesrepublik aufgrund der Frage des Opferstatus abverlangt werden. Daneben stehen aber auch andere Beobachtungen: Für Jugendliche beispielsweise, die heute noch in Kasachstan leben, gibt es zwar über die deutsche Abstammung eine kasachstandeutsche Selbstzuschreibung, doch führt dies keineswegs immer dazu, sich etwa um den ausreichenden Spracherwerb zu kümmern.

Stoll zeigt durch ein methodisch vielfältig angelegtes Quellen- und Interviewverfahren Gründe für diese scheinbaren oder tatsächlichen Widersprüche auf. Er weist auf weltanschauliche Brüche und Wahrnehmungsunterschiede zwischen den Generationen, zwischen schon Eingereisten und noch Einreisewilligen, aber auch zwischen sogenannten „echten“ und „falschen“ Kasachstandeutschen hin. Er benennt Vorurteile und Klischees unterhalb der Kasachstandeutschen und Ressentiments gegenüber anderen ethnischen Gruppen. Ebenso lässt er Menschen zu Wort kommen, die ihre Hoffnungen, die sie mit der Ausreise verbinden, aussprechen. Hier liegt ohne Zweifel eine Stärke des Buches. Manche Antwort mag uns dabei gerne irritieren, gerade wenn es um die Erwartungshaltungen oder Zukunftsplanungen junger Leute geht.

Zuletzt bietet uns Stoll aber auch für diese Vielfalt von Erhebungen und Interviews neue Einordnungsmöglichkeiten aus der modernen Migrationsforschung an. Denn viele dieser Darstellungen lassen sich über das Konzept der transnationalen Migration besser erklären als über das traditionelle der Ethnizität, ohne letzterem die immer noch gegebene Relevanz für die Zuordnung als Kasachstandeutsche abzusprechen. Das hindert Stoll allerdings nicht daran, Versuche der Renationalisierung und „Wiederbelebung“ deutscher Eigenheiten kritisch anzufragen, ein Unterfangen, das uns von außen zugegeben auch häufig altmodisch und künstlich erscheinen mag, wollte man sie mit dem Kulturleben der Bundesrepublik zwischen Tokio Hotel und „Deutschland sucht den Superstar“ in Verbindung bringen.  

Das Konzept der transnationalen Migration selber entwickelt Stoll nun kontinuierlich in seinem Buch. Es mag hier genügen darauf zu verweisen, dass es Migration über Netzwerke und soziale Räume definiert, auch über familiäre und wirtschaftliche Beziehungen, die nicht ethnisch ausgerichtet sein müssen. Mit dieser Neuordnung versucht Stoll den Übergang in Kasachstan von Fragen des deutschen Kulturerhalts, der deutschen Sprachfähigkeit und der systemischen Verankerung in deutscher Deportationsgeschichte hin zu Erleichterungen heutiger Ausreise durch Angebote in kasachstandeutschen Sozialräumen und Begegnungsstätten verständlich zu machen. Denn diese Angebote versuchen, die kasachstandeutschen Anknüpfungspunkte zurück nach oder generell innerhalb von Kasachstan für diejenigen zu erhalten, die keinen Ausreisebescheid bekommen haben oder aber im Alter zurückkehren wollten oder aber wirtschaftlich, freundschaftlich und familiär Kasachstan als interkulturelle „Pendler“ verbunden bleiben wollen.

Womöglich bleibt hier am Ende doch ein Fragezeichen bestehen, zumindest wenn man von bundesdeutscher Perspektive aus schaut, ob transnationale Migration nicht lediglich ein neues Erklärungsmuster für die Optionen von Ausreise oder Bleiben bleibt und weniger eine von einer großen Gruppe empirisch dann verwirklichtes Lebensziel werden wird. Dies bleibt abzuwarten. Ferdinand Stoll bereitet uns auf jeden Fall jetzt schon mit seinem Buch auf diese noch ausstehenden Entwicklungen ausgesprochen gelungen vor.

 

Von Pfarrer Dr. Oliver Dürr